Im Zivilgesetzbuch soll ein neuer Artikel das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung im Gesetz verankern. Die Studie von der Universität Freiburg aus dem Jahr 2018 zeigt, dass rund 25% der Eltern mit einer gewissen Regelmässigkeit Strafen anwenden, die von den Kindern als psychisch bedrohlich erlebt werden können. Insgesamt kommen die psychischen Misshandlungen (37%) häufiger vor als physische Misshandlungen (23%). Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, dass psychische Gewalt weniger gut zu sehen ist und dadurch auch weniger identifizierbar ist wie physische Gewalt. Es kann daher vermutet werden, dass die psychische Gewalt noch häufiger vorkommt als in der Studie angegeben ist. Die Auswirkungen von psychischer Gewalt sind für jüngere Kinder (Kleinkind- und Vorschulalter) noch schlimmer als für ältere Kinder.
Im letzten Blogbeitrag habe ich aufgezeigt, dass Samira in einem narzisstischen Familiensystem aufgewachsen ist. Wie sich dabei der pathologische Narzissmus von Frauen und Männer unterscheidet, darauf gehe ich in einem nächsten Blogbeitrag ein. In diesem geht es um die Auswirkungen der psychischen Gewalt auf die betroffenen Kinder.
Samira erlebt psychische Gewalt von Geburt an und ist bereits während der Schwangerschaft davon betroffen. Die Auswirkungen haben daher tiefgreifende Wirkung auf Samiras Entwicklung. Die Blog-Beiträge sind auf wahren Begebenheiten aufgebaut. Die Geschichten und Namen wurden verändert, um den Persönlichkeitsschutz zu wahren.
Samira - ein Leidensweg, der noch kein Ende gefunden hat
Erinnern wir uns, wie Samira erwähnt, dass sie zuhause als Kind am Esstisch nicht von ihren Erlebnissen berichten kann, weil der Bruder sofort dazwischen schreit und die Eltern nichts unternehmen. Bei Samira führt dies dazu, dass sie als Kind am Mittagstisch nicht mehr essen kann und nur noch ihren eigenen Atem und ihr Herzklopfen hört. Wenn die Mutter sie mit Sätzen beschämt wie; «du bist niemand», «du hast hier bei mir nichts zu suchen» usw. zieht sich Samira in ihr Zimmer zurück und weint. Um sich selbst zu beruhigen, nutzt sie Fantasiereisen. Zusammen mit ihren Plüschtieren flüchtet sie sich in ihrer Fantasie auf eine sichere Insel ohne Menschen, ohne Gefahren. Diese Flucht auf eine Fantasie-Insel kann als eine selbststabilisierende Überlebenstechnik von Samira gewertet werden.
Die dysfunktionale Familiensituation, das Beschämen und Entwerten führt bei Samira dazu, dass sie als Kleinkind sehr still und extrem schüchtern wird. Sie will unter keinen Umständen auffallen, um der Mutter möglichst nicht zu missfallen. Samira entwickelt aufgrund der immer wiederkehrenden unfreundlichen Sätze der Mutter eine Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit), um ein- und abschätzen zu können, wie es ihrer Mutter emotional geht und wie sie sich verhalten muss, damit sie sie liebhat. Im narzisstischen Familiensystem geht es nicht um die Bedürfnisse von Samira, sondern um jene der Mutter. Samira lernt nicht, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen. Im Verlauf ihrer Kindheit und Jugend entwickelt Samira Komplexe. Sie hasst Teile ihres Körpers und fängt an zu lispeln, was sich zeitweise zu einem stottern auswächst. Samira entwickelt bereits als Kind Depressionen, unter welchen sie bis heute wiederkehrend leidet. Als erwachsene Frau bleibt Samira sehr beobachtend und misstrauisch. Sie bevorzugt noch heute Autonomie, hat grosse Schwierigkeiten anderen Menschen zu vertrauen und will von niemand abhängig sein. Sie gerät leicht -aber unbewusst- in ungesundes Leistungsverhalten. Sie hat das Gefühl, um Liebe und Anerkennung zu erhalten, müsse sie die Bedürfnisse eines Partners, der Familie, eines Arbeitgebers befriedigen. Samira leidet an Gedankenkreisen, Schlaf- und Essstörungen, Hautausschlägen und Minderwertigkeitskomplexen. Sie kennt ihre eigenen Bedürfnisse nicht und passt sich den Bedürfnissen anderer an. Zudem ist ihr bis heute das Gefühl von Nervosität geblieben, wenn sie etwas erzählen soll.
Entwicklungspsychologie: Aus Sicht der #Entwicklungspsychologie bedeutet (neben körperlicher Misshandlungserfahrungen) insbesondere die körperliche und emotionale Vernachlässigung, dass das Kind einen grundlegenden Mangel an sozialen und sensorischen Erfahrungen hat, was einer extremen Belastung für das Kind gleichkommt, und einen starken traumatisierenden Effekt hat (Pedrina, 2020; mit. in Diez Grieser, 2022, S. 53). Seine eigenen Emotionen regulieren zu können ist die Basis, um das eigene Selbst regulieren zu können (Diez Grieser, 2022, S. 56). Als Selbstregulation wird verstanden, dass der Mensch die Fähigkeit hat, seine Bedürfnisse und Impulse mit den Anforderungen, die von Aussen kommen abzustimmen (ebd.). Das Kleinkind ist darauf angewiesen, dass sein Selbst von Aussen reguliert wird. Ist ein Kind von traumatischen Erfahrungen betroffen, so stört dies die Entwicklung des Gedächtnisses und insgesamt den Informationsverarbeitungsprozess nachhaltig (Diez Grieser, 2022, S. 57). Dabei werden auch die Selbstentwicklung sowie die kognitive Entwicklung negativ beeinflusst (ebd.). Grossen Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit im Erwachsenenalter haben wiederholt belastende Erfahrungen als Kind im Beziehungsleben innerhalb der Familie (Diez Grieser, 2022, S. 64). Gehören diese Erfahrungen zu den kumulativen Traumatisierungen, nehmen sie direkt Einfluss auf "die gesamte bio-psycho-soziale Entwicklung der betroffenen Kinder" (ebd.). Daraus entwickeln sich kognitive, emotionale und soziale Einschränkungen; diese führen zu risikoreichem Verhalten und häufig auch zu körperlichen sowie psychischen Erkrankungen "und bei Extremtraumatisierungen sogar zum frühen Tod" (ebd.).
In den nächsten Blogbeiträgen thematisiere ich die verheerende Wirkung eines narzisstischen Familiensystems auf die Bindungsfähigkeit der betroffenen Menschen, wie unser Hirn mit Trauma umgeht und damit wie unser Stressverarbeitungssystem negativ beeinflusst wird, sowie was wir unter Mentalisierungsfähigkeit verstehen und welche Bedeutung diese hat im Umgang mit dem Entwicklungstrauma.
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