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Jill Keiser

Narzissmus und die Entwicklung eines falschen Selbst


Es ist für mich überraschend und gleichzeitig erfreulich zu sehen, wie viele Artikel in den letzten Monaten zum Thema Trauma, Narzissmus und Veränderbarkeit der Persönlichkeit veröffentlich wurden. In einem Artikel ging es um die Frage, ob die Persönlichkeit unveränderbar sei. Sie ist es nicht, zum Glück. Neue Wesenszüge können gelernt werden. Das beweisst unter anderem ein junger Mann, der erkannte, dass er an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet. Ein anderer Artikel erläutert am Beispiel Palästina / Israel, dass Traumata von Generation zu Generation weitervererbt werden (NZZ am Sonntag, 04.02.2024, "Das doppelte Trauma") und ein weiterer Artikel zeigt auf, wie einfach Narzissmus erkannt werden kann.

Ich bin froh und dankbar, wenn viele gut recherchierte Artikel zum Thema Narzissmus und seinen Folgen veröffentlicht werden. Es ist meiner Ansicht nach von grosser Wichtigkeit, dass wir gut informiert sind über diese Themen. Denn so zerstörerisch wie psychischer und emotionaler Missbrauch wirken, benötigen wir jede erdenkliche Hilfe, um uns davor zu schützen oder davon zu heilen.

Im Folgenden möchte ich aufzeigen, wie ein Kind ein falsches Selbst entwickelt, wenn es in einem narzisstischen Familiensystem oder mit einem psychisch kranken Elternteil aufwächst.


Bleiben wir dafür beim Beispiel meiner bisherigen Blog-Beiträge, bei Samira. Zuhause erlebt Samira von klein auf konstante Abwertung, Beschämung und Missachtung ihrer Bedürfnisse sowie eine Ungleichbehandlung gegenüber ihrem älteren Bruder. Dies führt bei Samira dazu, dass sie sich der Mutter anpasst, um sicher zu gehen, dass sie die Mutter nicht verärgert und zumindest etwas Zuwendung bekommt. Dieser Mechanismus hat die Wirkung, dass Samira ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse hinter alles andere stellt. Samira zeigt von klein an ein überangepasstes Verhalten. In ihrem erwachsenen Leben zeigt sich dies in ihrem Berufsleben darin, dass sie nicht wagt etwas zu sagen, wenn die Arbeitslast zu gross wird. Sie fühlt sich zwar wie in einem Hamsterrad und hat kaum Zeit und Energie, um sich um ausserberufliche Aktivitäten zu kümmern oder Freundschaften zu pflegen. Aber der berufliche Erfolg bestätigt Samira ihr Erleben aus der Kindheit, dass Anerkennung und Liebe gekoppelt ist an die Anpassung an die Bedürfnisse anderer und dass dafür viel Leistung notwendig ist. Auch in Ihrer Beziehung fühlt sich Samira verantwortlich, die Wünsche und Bedürfnisse ihres Partners zu erfüllen. Durch ihre Mutter hat Samira gelernt, dass sie leisten muss, um Anerkennung oder zumindest ein wenig Zuwendung zu erhalten. Dadurch entwickelte Samira ein falsches Selbst.


Unter einem falschen Selbst wird ein Überlebensmechanismus verstanden (Wardetzki, 2015, S. 41) und dieser entsteht beim Kind durch eine nicht gelingende Eltern-Kind Beziehung (Wardetzki, 2015, S. 40). Für das Kind ist die Zuwendung der Eltern überlebenswichtig (Wardetzki, 2015, S. 41). Daher tut ein Kind alles, um die Liebe und Zuwendung der Eltern zu erlangen, passt sich den Anforderungen seiner Umwelt an und versucht, diesen gerecht zu werden (ebd.). Leidet die Mutter unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, ist sie nicht fähig, auf das Kind adäquat zu reagieren (Wardetzki, 2015, S. 41). Sie wird das Kind vielmehr zurückweisen oder vereinnahmen (ebd.). Das Kind erlebt dadurch, dass es nicht wahr- und angenommen wird, wie es wirklich ist und fühlt sich allein gelassen (ebd.). Dies führt dazu, dass das Kind nach aussen hin ein Selbst aufbaut, welches ihm nicht entspricht und verbirgt dahinter seine eigentliche Person (ebd.). "Das wahre Selbst kann sich nicht entwickeln und differenzieren, weil es nicht gelebt werden kann" (Miller, 1979a, S. 29; zit. in Wardetzki, 2015, S. 41). Das Kind, auf Liebe und Zuwendung der Eltern angewiesen, hat seine eigenen Gefühle und Empfindungen zurückgenommen und abgespalten, um sie nicht mehr wahrzunehmen (Wardetzki, 2015, S. 41-42). Dieses in der Kindheit entstandene falsche Selbst hat als Langzeitfolge die Wirkung, dass es dem erwachsenen Mensch enorm schwerfällt, seine eigenen Bedürfnisse und Gefühle überhaupt wahrzunehmen (ebd.).

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